Gespräch mit Nora Somaini und Klaus Witzling
anlässlich der Aufführung von Kleist´s Amphitryon im Theaterhaus Jena
aus „Theater der Zeit“ Ausgabe 04/2006
Sprache, genauer die deutsche Sprache, und nicht Lust an Rollenanverwandlungen, animierte die Schweizer Schauspielerin und Regisseurin Nora Somaini, zum Theater zu gehen.
Bereits am Gymnasium hatte sie einen Chorlehrer, der Text und Musik vernetzte, mit ihr als Sprecherin Arthur Honeggers König David aufführte.
Noch bevor sie die Hochschule für Musik und Theater in Hannover besuchte, genoss Somaini Sprechuntericht bei der Nichte von Ellen Widmann, wie sie betont einer hochbekannten, brillanten Sprachfrau am Zürcher Schauspielhaus. Weitere und für sie richtungsweisende Erfahrungen mit Chorarbeit sammelte die Schauspielerin am Berliner Ensemble in Einar Schleefs legendärer Brecht-Inszenierung Herr Puntila und sein Knecht Matti (1995/96).
Danach begann sie Regie an der Universität Hamburg zu studieren, arbeitete bereits im zweiten Studienprojekt Anatomie Titus Fall of Rome von Heiner Müller selbst mit Chor.
Die antike Theaterform prägt seitdem ihre Inszenierungen und ihren Blick auf Theater. Von der Schleef-Inititation hat sich die Regisseurin, Jahrgang 1968, emanzipiert und sprach mit TdZ über Entwicklungen und Veränderungen ihrer Chorarbeit, die sie auch in der jüngsten Produktion von Kleists Amphitryon am Theaterhaus in Jena einsetzt.
Im September bringt sie am Theater in der Parkaue Antigone von Sophokles heraus und im November mit ihrem Theaterlabor Credits in den Sophiensälen.
TdZ: Was fasziniert die Schweizerin an der deutschen Sprache, die viele Ihrer Landsleute als Stolperstein bei der Bühnenkarrierre empfinden?
Nora Somaini (in kristallklarem Bühnendeutsch, ohne die geringste Spur einer Dialektfärbung): Ich finde Deutsch ganz toll. Die Sprache hat eine präzise Bauart. Nehmen wir Kleist: Auf einer Seite benützt er ungefähr 40 verschiedende Verben. Das kennne ich nur vom Deutschen. Man muss gar nicht emotional werden, weil man die Sprache hat, um Gefühle zu beschreiben und sie beim Gegenüber auszulösen. Das ist eine Qualität von Deutsch. Dieses präzise Umschreiben fehlt besipeileweise dem Italienischen, daher braucht es benötigt es dieses expressiven Sprechen.
TdZ: Was hat Ihnen Einar Schleef in der Chorarbeit vermittelt?
N.S.: Er hat das Deutsche gesprochen, so wie ich es höre. Sehr hart und teilweise abgehackt. Das war mir nicht fremd. Ich dachte: Genauso empfinde ich es. Durch die Rhythmisierung bewirkte Schleef Kontext- und Sinn-verschiebungen, die Ausage und Gehalt des Textes veränderten.
Außerdem entsteht eine Energie und Emotionalität durch Rhythmus, anders als wenn man die Worte nur sagt oder denkt.
Das hat mich an der Chorarbeit am meisten gereizt. Wenn mehrere Leute etwas sprechen, kann ich eine Emotionalität erreichen, einen Seelenpunkt berühren, um mit Kleist zu sprechen. Mich interresiert weniger der politische, agitative Chor, das ist meines Erachtens ein bisschen vorbei.
TdZ: Haben Sie sich beim Regiestudium in Hamburg mit griechischem Theater beschäftigt?
N.S.: Professor Manfred Brauneck hat mich ordentlich eingeführt. Der erste Schauspieler musste sich immer gegen einen Chor reiben, konnte nur so als Protagonist bestehen. Dann kam der zweite und dritte dazu. Das Individuelle funktionierte nur über die Behauptung gegenüber der Masse, den Chor. Das mag zwar alles alt klingen, aber das Individuelle interessiert mich nur, wenn es eine Basis, einen Boden gibt, an denen es sich reiben kann.
TdZ: Das klingt jetzt aber sehr nach Schleef, der behauptete, wir existierten als Individuen überhaupt nicht mehr.
N.S.: Da hat er schon recht.. Aber ich sehe es weniger defizitär. Er hat es politischer gedacht, nur habe ich eine andere Biografie.
Bei mir läuft es eher auf ein philosophisches Interesse hinaus, zu sagen, wir existieren nicht. Ich finde das nicht schlimm, ehrlich gesagt.
Aber ich stelle auch gerne in Frage, ob mich Franz Moors Pipi-Probleme interessieren. Die Frage für mich ist vielmehr, woran reibt er sich, so dass er mich interessieren könnte.
TdZ: Ihre zweite Studieninszenierung war ein Chorprojekt mit Heiner Müllers Titus fall of Rome, in der Erstfassung aufgeführt in der Tiefgarage der Hamburger Staatsbibliothek. Warum der Chor?
N.S.: Müller schafft im Text eine die Historie reflektierende Kommentarebene.
Meine Denkkonstellation war, die Sicht auf Vergangenheit und Geschichtsvorgänge chorisch umzusetzen. Und ich behaupte, dass alle die Körper, die den Chor bilden, Geschichte mit sich tragen. Aus ihrem Wissen treten sie in die Handlung ein, aber sind nicht mehr naiv, sie erleben das nicht jetzt plötzlich neu.
TdZ: Ein politisches Moment, das gleichzeitig Distanz zur Darstellung schafft ?
N.S.: Und einen gewissen Zynismus. Der Chor verkörperte die Zeit und die Geschichte.
Der Chor handelt als Wissender aus dieser Erfahrung heraus: Ich heute. Ich bin damit aufgewachsen. Als ich geboren wurde, gab es Afrika, die erste und dritte Welt. Damit bin ich doch am Kernpunkt. Wenn ich aus dieser Sicht eine Geschichte aus dem alten Rom zeige, kann ich doch nur zynisch sein. Geht doch gar nicht anders. Außer ich tue so, als ob ich nichts wüsste. Deshalb habe ich auch den Müller gemacht, weil er Geschichte aufarbeitet und in einen kritischen Kontext stellt.
TdZ: Dient Ihnen der Chor als Medium, die Naivität und Identifikationsprozesse von Schauspielern in der altmoderischen Form zu verhindern und aufzubrechen?
N.S.: Absolut.
In der Form des Chores bedingen sich Inhalt des Stückes, wie der Inhalt, den der Zuschauer rezipieren wird, als auch der Inhalt, den der Spieler erarbeiten muss, gegenseitig.
Weil nämlich Widerstände gegen den Chor herrschen, die jene in unserer Gesellschaft widerspiegeln: Dass man etwas aufgeben muss und seinen individuellen Ausduck verliert.
Es gibt Schauspieler, die kriegen die Krise: Chorsprechen greift sie an und stellt sie ganz tief in Frage.
TdZ: Diese Prozesse versuchen sie kreativ nutzbar zu machen?
N.S.: Er kann, muss aber nicht passieren. Für manche ist das der Horror, denen würde ich abraten. Andere lernen im Vorgang des Chorsprechens, des Einübens und gemeinsamen Tonfindens sich einzupegeln.
Man muss sich hören, wie auch die anderen. Die Wahrnehmung wird geschult, gleichzeitig inside und outside zu sein.
Den gemeinsamen Ausdruck und Rhythmus zu finden, ist eine wahnsinnige Arbeit, die nur so leicht aussieht.
Bis der Chor wirklich spricht, ist das ein Riesenprozess. Auf der Schauspielschule lernen die Leute ja nur: Ich, ich, ich.
Aber wenn sie merken, dass sie mal loslassen können, auch auf die anderen vertrauen, erfahren sie, dass sich Ausdruck auf das Achtfache, das Dreißigfache potenzieren lässt, wenn alle mithgehen und die Seelen schwingen wie Kleist sagen würde. Es ist ja kein mechanischer Vorgang.
Tdz: Dieses Einssein wäre also also nicht gleichmacherische Uniformität, wie in Deutschland aufgrund der besonderen Geschichte aufgeregt kritisiert wurde, und der Faschismus-Vorwurf gegenüber Schleef ein grobes Missverständnis?
N.S.: Als ich bei Schleef im Chor stand (in dessen Inszenierung von Brechts Herr Puntila und sein Knecht Matti am Berliner Ensemble) und diese Erfahrung mit 30 Leuten machte, wenn wir mal zusammen waren, was schwer genug war, da habe ich für mich entschieden:
Ich will nie mehr allein auf der Bühne stehen, weil Theater alleine gar nicht zu erleben ist. Das ist immer eine Art von Onanrieren, wenn einer allein spielt, sage ich mal ganz böse. Ich spreche nicht von der Ausnahme, wenn der Protagonist sich dem Publikum wirklich öffnet.
Aber 70 bis 80 Prozent von dem, was sich sehe, empfinde ich als wahnsinnig narzistisch. Das Wagnis einzugehen, sich wirklich zu öffnen ist beim Chor leichter und risikoloser, und wenn es dann stattfindet, wirkt es hammermäßig.
TdZ: Als militärischen Drill haben Sie also die Arbeit mit Schleef nicht empfunden?
N.S.: Nein, gar nicht. Ich wusste immer, dass jede Art von Präzision Arbeit ist. Fragen Sie einen Opernsänger. Fragen Sie einen Orchestermusiker.
Will man präzise sein, muss man üben. Wenn sich 30 Individuuen koordinieren sollen, die in ihrem Leben alle nur noch ihre eigenen Ziele verfolgen, wird´s schwer. Darum ist Schleef manchmal ausgerastet.
Mit dem gleichen Problem schlage ich mich herum. Dieses Ego-Denken ist so verankert und bewirkt eine ungeheure Einsamkeit in der Arbeit.
Menschen in sechs Wochen umzugewöhnen, dass sie miteinander arbeiten und sich nicht nur gegenseitig benutzen, ist echt schwierig.
TdZ: Also verstehen Sie Chorarbeit als Widerstand zu den narzistischen Ich-AGs und ein Votum für Ensemble-Arbeit?
N.S.: Ja. Das Choreinstudieren läuft ganz viel über das Abnehmen, Hin- und Zuhören.
Letztendlich geht es um eine Form von völliger Hingabe an denjenigen, der führt. Ich bin in dem Moment nicht mehr so wichtig. Das hat in meinen Augen nichts mit Unterordnung zu tun. Ich bin beeinflusst von japanisch formeller Ästhetik.
Da geht es nie darum, sondern ums Weglassen. Form hilft mir, Dinge wegzulassen, von denen ich denke, ich bräuchte sie.
TdZ: Wie haben sich Ihre Möglchkeiten, mit Chor zu arbeiten seit dem Titus verändert?
N.S.: Es gibt inhaltliche und praktische Aspekte. Wie organisiere ich eine Masse? Sie stehen zu lassen, ist die einfachste Form, aber langweilig.
Chor, wie ich ihn begreife und in den Urtexten lese, ist Ausdruck des Schmerzes und Missbehagens. Das sind keine normalen Bürger. Es sind oft Aussätzige, Rechtlose, Uralte. Er verkörpert Ausnahmezustände und das ist ein wichtiger Gedanke. Er repräsentiert nicht das Volk und die unbedeutende Masse. Das wäre eine politische Instrumentalisierung von Chor, die mich vorsichtig machte.
TdZ: Von Volk oder Masse kann in Ihren Inszenierungen von Sarah Kanes Gier und Kaspar nach Peter Handke keine Rede sein.
N.S: Mit jedem der sechs Darsteller in beiden Aufführungen habe ich eine eigene Biografie erarbeitet. Jeder Schauspieler bekam eine eigene Ecke, die gemeinsam schließlich ein Ganzes ergeben.
Diese Arbeit muss man sich schon machen. Schleef hat sie nicht gemacht. Die einzelne Braut im Brautchor interessierte ihn nicht. Ich finde aber verschiedende Farben im Chor gut und wenn er sich auflöst, können die Spieler sofort in ihre Figuren fallen. Es gibt nämlcih keinen neutralen Zustand.
Chor ist doch ein bewegliches Instrumentarium. Er fängt schon an, wenn zwei Leute miteinander reden. Früher hätte ich mir das nie erlaubt.
TdZ: Verfolgen Sie in ihrem Theaterlabor ebenfalls diese Ideen?
N.S.: In dem Moment, in dem sich alle daran Beteiligten im Labor auf einen Inhalt einigen, entsteht für mich etwas wie ein Chor.
Zusammenarbeit ist schon eigentlich Chor, vorausgesetzt sie läuft gut und wir versuchen, inhaltlich etwas gemeinsam zu erforschen.
TdZ: Das hieße, der Massenaspekt des Chores interessiert sie jetzt weniger, das Chorische hat eine andere, eigene Qualität gewonnen als eine Art Gegenkonzept zu den Schauspielern, die sich eitel als Rivalen im Rampenlicht produzieren?
N.S.: Müller hat einmal gesagt: Kein Besitzanspruch auf Rolle, Maske und Text. Ich muss wie im Chor bereit sein, eine Rolle zu übernehmen, kann mit ihr ausflippen, gebe sie aber dann wieder weiter oder ab.
Ich denke ohnehin eher in Kompositions- als in Dramatugie-Begriffen. Dramaturgie ist zwar wichtig, aber ich arbeite an der Sprache hauptsächlich musikalisch, an den Pausen, an einem Ritartando oder Accerlerando.
Ich bin auch überzeugt dass jeder von uns einen eigenen Beat hat. Einen Heartbeat, einen Atembeat. Wir sind per se rhythmisch.
Kleists Sprache ist zwar gebunden, aber wie muss man sich Chorelemente im Amphitryon vorstellen?
In der Inszenierung benutze ich den Chor, um Kleists Bewusstseinsexperiment über die Grundkrise, die er nach Kant hatte zur Frage Was ist Wahheit? sinnlich zu vermitteln.
Können wir mit unseren Sinnen Wahrheit übehaupt definieren? Oder ist alles eine lllusion? Kleist hat geschrieben: Das Subjekt erkennt sich als Spiegelbild seiner Umgebung und seiner Gegenüber. Es gibt also kein eigene Erkenntnis, nur im Gegenüber, im Gespiegelten von Sich und in der Umgebung.
Wenn ich das weiter spinne, sind wir bei der Zen-Philosophie: Das Subjekt verschwindet wenn es dem Objekt folgt, das Objekt versinkt, wenn es dem Subjekt folgt. Mit Objekt ist alles außerhalb der des Menschen gemeint, auch der Kosmos und mit Subjekt das Ego, das persönliche Bewusstsein.
Da wird es für mich spannnend, die Verwechslung der beiden Amphitryonen ist mehr als ein Streich des Gottes, berührt philosphische Dimensionen und die zerntrale Frage: Gibt es mich? Oder worauf fußt das, was ich so dachte?
TdZ: Sie verfolgen in ihrer Arbeit einen Zen-Gedanken, der die Identifikationen mit dem Ich als Ursache aller Täuschung betrachtet?
N.S.: Wenn ich erkannt habe, das ich meine Illusion lebe, dann habe ich sie durchschaut, kann mit ihr verschmelzen und es gibt keine Täuschung mehr.
Aber solange ich denke, ich bin einmalig und getrennt von den anderen Dingen, erliege ich einer Täuschung und ich bin nicht frei. Weiß ich aber: Ich bin ich, aber ich bin zugleich unwichtig, dann ist es sehr heiter, das Leben.
Sosias wird aufgefächert, teilweise sprechen alle seine Texte, dann wieder nur ein oder ein zwieter dazu. Der Text einer Person gehört ihr zu gewissen Grade und ich werde immer polyphoner zum Ende hin.
Das Individuum, seine Sprache und sein Handeln löst sich immer mehr auf.
TdZ: Wie funktrioniert nun der Chor in der Kommunikation mit dem Zuschauer?
N.S.: In dieser Anlage vervielfacht der Chor zum Beispiel die Wahrnehmung von Sosias im Wald.
Er steht hinter ihm. Das könnte auch der Albtraum eines Alkoholikers sein, der nicht mehr weiß, ob fünf andere hinter ihm sind oder er sich im Delirium tremens befindet und sich täuscht. Der Chor begleitet aber auch den Zuschauer und stellt mit ihm die Figuren in Frage, indem er ihnen Texte raubt oder sie nachäfft. Kleist benützt den plastischen Begriff des Maulaffen.
Amphitryon eins wird immer vom Chor nachgeäfft, seine Aussagen werden in Zweifel gezogen, verschoben und wieder aufgegriffen. Es ist wie in einem Musikstück von John Cage, in dem sich am Ende die Dinge verzahnen.
Ich höre mit einem richtigen Bewusstseinschaos auf, in dem sich keiner mehr seiner sicher ist, kann ich dem vertrauen, was ich gesagt habe oder dem was ich hörte?. Spinne ich oder spinnt der? Darin sehe ich das Potential von Kleists Amphitryon.
TdZ: Offenbar wollen sie Ihrer Methode des Chors als Aufteilung oder Spaltung des Selbsts den Zuschauer in dieselbe Verwirrung versetzen wie die Figuren auf der Bühne?
N.S.: Leider wird mir das nicht so gelingen, das muss ich gestehen. Es ist ja auch ein Lustspiel, da darf man nicht vergessen. Sonst hätte ich besser Kanes Psychose inszeniert. Aber es wäre das Fernziel. Hier nutze ich sie als ein Mittel, um etwas darzustellen, was ich nicht mehr realistisch darstellen kann und will.
Mich intereressiert eine Alkmene nicht, die auf der Bühne herumläuft und jammert , sie wüßte nicht, was los ist. Bei mir streiten sich zwei Alkmenen. über die Form zeichne ich sozusagen die Psychologie der Figuren.
TdZ: Arbeiten sie dabei auch körperlich?
N.S.: Sosias geht und hinter ihm gehen acht Leute im gleich Beat wie ein Körper. Und dann löst es sich wieder auf. Man kann Chor doch weit gespannter übegreifen.
Natürlich nicht so präzise wie vielleicht bei Sasha Waltz. Ihre Tänzer arbeiten auch chorisch auf die beste Weise. Ich habe so großen Respekt vor diesem Ensemble. Sie müssen füreinander dasein, weil es so riskioreich ist, was sie machen.
Wenn einer nicht mitarbeitet und der andere auf den Boden knallt, ist seine Existenz verloren. Das ist bei uns auf dem Sprechtheater oft nicht so.
Die Schauspieler realisieren ganz lange nicht, wie wichtig sie füreinander sind und dass sie nicht allein funktionieren können.