taz vom 12.1.2004: Kleine Apokalypse |
Hanburger Abendblatt vom 12.1.2004: Schamlos und leidenschaftlich |
Es war die Stunde der jungen Wilden. Das Theaternachwuchsfestival "Ausser Atem" auf Kampnagel bereitete am Wochenende seinem Namen alle Ehre und ließ jugendlicher Inszenierungslust freien Lauf. Auch für den zweiten Festivaltag lautete das Gebot: Filmstoffe, eigener Text, eigenes Ensemble und geringes Budget….
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Noch weiter von ihrer Vorlage, dem Familiendrama "Das Fest" des "Dogma"−Regisseurs Thomas Vinterberg, hat sich Nora Somaini gelöst. Die Hamburgerin ist keine Unbekannte mehr und hat bereits beim "Junge Hunde"−Festival und am Thalia in der Gaußstraße inszeniert. In Das Begräbnis versammelt sie eine Schar Trauergäste um einen Tisch in einem miefigen Kleinbürger−Restaurant. Anlass ist die gemeinsame Trauer um den zwielichtigen Dozenten Manfred, der nach der Wende verdächtig aalglatt von Ost− nach Westdeutschland gewechselt ist. Der Leichenschmaus verkommt schnell zur Farce. Die Erinnerung an den Verblichenen zerrt die dunkelsten Seiten der Trauergesellschaft ans Licht. Erwin (Sven Tjaben) pinkelt ans Tischbein und versucht Manfreds letzte Frau Ingrida (Natascha Bub) von hinten zu nehmen. Manfreds Bruder Wolfgang (Henry Meyer) säuft und schimpft sich um Kopf und Kragen − und erbt am Ende alles. Und die Ex−Geliebte Gertrude (Petra Wolf) ist in zwanzigjähriger Trauer um den Geliebten erstarrt. Da wird munter gesoffen, ein Dosenmenü verspeist und in erbitterten Kleinkriegen verharrt.
Somaini hat die Charaktere mittels szenischer Improvisationen nach Strassberg gemeinsam mit Drehbuchautor Luke McBain entwickelt. Ihre spleenigen Figuren mit ihrem auf Manfred projizierten Selbsthass sorgen für viele Lacher im Publikum. An dieser oder jener Stelle hätten sie noch eine Steigerung vertragen. Das herrlich apokalyptische Schlussbild der versoffenen Leichenfledderer bleibt auch so schlüssig.
Von caroline mansfeld
Schamlos und leidenschaftlich − "Außer Atem" − Festival auf Kampnagel
Hamburg – …
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Verwendet hingegen Nora Somaini in ihrer Inszenierung "Das Begräbnis" die Analogie zum Martyrium Christi am Kreuz, gibt die ironische Travestie der Leidensikone ihrem Familien−Passionsspiel zwischen Ost und West tiefere Bedeutung.
Beim auf allen Linien (komisch) schief laufenden Leichenmahl für den verblichenen Zoni−Dichter und Lebemann Manfred in deutsch−deutschen Verhältnissen sollte es eigentlich um Verstehen, Verzeihen und letztlich das wirkliche Versöhnen gehen, um die Überwindung ökonomischer und sexueller Ausbeutung.
Stattdessen tobt der deutsch−deutsche Zwist immer schamloser ums Geld und gipfelt zynisch in einer Orgie.
Somaini, inspiriert durch den Dogma−Film "Das Fest", hat mit den sämtlich fabelhaften Schauspielern und Autor Luke McBain eine eigenständige, kluge und komödiantisch funktionierende Satire erarbeitet, die zu Recht vom Publikum gefeiert wurde. Dieser Erfolg könnte der präzise Figuren zeichnenden wie inszenierenden Regisseurin spielend Türen zu einem Theater vom Profil des Thalia öffnen.
Von Klaus Witzeling