Amphitryon

Amphitryon im Theaterhaus Jena: Das Fehlen der Götter
Campusradio, 17.03.06: Ene Mene Muh und wer bist du?
Ostthüringer Zeitung, 17.03.2006: Bin ich ich oder was?
Thüringer Allgemeine, 17.03.2006: Jena: Das Ego ist eine Drehscheibe
Thüringische Landeszeitung, 17.03.2006: Verwirrte Sinne im Peep-Labyrinth

Das Fehlen der Götter

 
Nora Somaini inszeniert am Theaterhaus Jena Kleists "Amphitryon" als Beleg einer existenziellen Schwellenerfahrung

 
Das "Ach" zum Schluss ist mehr gehaucht denn gesprochen. Ein schwacher Seufzer, zittrig hingehuscht.
Alkmene hängt, tief ermattet von den wirren Geschehnissen in ihrem Hirn und Herz, am Halse des Amphitryon und weiß noch immer nicht, was sie glauben soll und wissen darf.
Ach, ist dies ihr Amphitryon oder ist´s doch jener andere? Und ach, darf sie selbst sich ihrer gewiss sein? Nichts davon darf sie. Denn anders als in Kleists "Lustspiel nach Moliere" wird das intrigante Verwechslungstreiben in der Inszenierung von Nora Somaini nicht ausgedröselt. Der Knoten bleibt geschlossen. Bei Kleist entlässt Jupiter, der göttliche Schalk, den gehörnten Amphitryon im "Triumph" und mit dem Versprechen auf einen glorreichen Sohn; hier bleibt der "liebste Wunsch" nach Klarheit und Auflösung aller Unsicherheit dezidiert unerfüllt. Kein Triumph, die entsprechenden Textpartien sind getilgt. Das Lustspiel endet, wie es begonnen: als philosophisch hochgeladene Tragödie über die gefährlich durchlässige Grenze zwischen Glauben und Wissen, Innen und Außen, Realität und Fiktion.

Es ist eine radikale Lesart, im besten Sinne des Wortes. Kleist hatte zwar, gerade im Vergleich mit Moliere, dem tradierten Stoff ordentlich Zweifel an der Festigkeit des Faktischen eingerieben und darin die riskante Frage nach der Trennlinie zwischen Sein und Schein bereits aufgeworfen, aber eben nicht aufgehoben. Somaini und ihre Dramaturgin Tanja Mette nehmen nun diesen Kleist als Beleg einer existentiellen Schwellenerfahrung, die ein Scheiden zwischen Drinnen und Draußen nicht länger duldet. Dieser Fassung zufolge kündet die Vorlage vom Flackern des Bewusstseins − als Dauerzustand. Wo das Spiel aufhört und der Ernst anfängt, ist nicht auszumachen; was eigen und was fremd ist, bleibt ständig im Fluss. Denn wer "ich" sagt, spricht bereits im Chor. Nicht einfach, weil ohne ein Gegenüber kein Ich wird, sondern weil das Ich−sagen−Können auf dem Ab− und Urgrund einer Gemeinschaft fußt. Behauptet jedenfalls dieser intellektuell anspruchsvolle Abend, der darin mehr oder anderes behauptet als die gerade in Theaterkreisen so beliebten (und gern verkürzt weitergereichten) Postmodernismen. Die viel beschworene Identitätsproblematik entspringt hier keinen Mutmaßungen über eine simulierte Welt, sondern der Sprengkraft des Kollektivs. Die Konflikte im Inneren sind somit Spiegelungen der Konflikte des Außen, die Spannungen des Selbst wiederholen die Gegensätze des Gesellschaftlichen. Kleist hat die Komplexität dieser auch politisch relevanten Identitätsdeutung angelegt, die Jenaer Inszenierung spielt sie aus. Und gibt sich den Untertitel "ein Bewusstseinsexperiment in chorischer Form". Experimente sind Hilfsmittel der Wahrheitsfindung, die chorische Form ist Ausdruck eines anders nicht zu fassenden Inhalts. Die gesuchte Wahrheit ist jene nach der widersprüchlichen Einheit des Bewusstseins, die aber nicht zu finden ist, nur umspielt werden kann. Der Chor ist dafür das genuine Mittel. Jedenfalls dann, wenn er mehr wird als Statthalter einer bloßen Masse. Bei Somaini tritt er als Körper gewordene Vielstimmigkeit auf, der nach außen verlegte Widerstand innerer Stimmen. Wenn zu Beginn der Diener Sosias auf den Merkur trifft, der ihm das Sosias-Sein streitig macht, und wenn diesem Sosias die ersten Zweifel an ihm selbst dräuen ("Gut, gut. Mir fängt der Kopf zu schwirren an."), spricht die gesamte siebenköpfige Figurenschar. Nicht um des energetischen Effekts willen, sondern weil sie alle vom selben Selbstmisstrauen angefressen sind. Auch das denkt diese Inszenierung radikal: Die Götter fehlen. Gestrichen, endgültig abgeschafft. Der leergeräumte Götterhimmel ist zur Menschenhölle herabgesunken, schon deshalb kann es keinen "Triumph" geben. Wo der Text einen Merkur neben Sosias und einen Jupiter zu Amphitryon treten lässt, stehen hier "Sosias 1 und 2" (Sven Tjaben und Tim Ehlert) oder eben "Amphitryon 1 und 2" (Gunnar Titzmann und Mathis Julian Schulze). Selbst Alkmene ist in Selbstverdoppelung gegeben. Allein Charis (Naemi Schmidt−Lauber) darf − oder muss? − eine Einzelne bleiben; dafür ist sie mit einer Art höherer Einfalt gesegnet. Alkmene dagegen ist eine Doppelfigur, die von existentieller Verwirrung angefallen ist. Während die eine (Andrea Schmid) sich von Amphitryon 1 − oder Nummer 2? − herzen lässt, steht die andere (Saskia Taeger) dahinter, steif, die Augen geschlossen. Das eine Ich träumt das andere, wie später die eine der anderen unter die Arme greift, den Text weiterreicht oder sie gemeinsam den Amphitryon 2 (?) liebkosen. Sie sind nicht einfach gedoppelt, sie sind eine Zweiheit, die mal reduziert auf eine Einzelstimme, mal zum Chor vergrößert wird. Es geht diesem Spiel weniger um die Lust an der Verwechslung, sondern um die Formung eines Bewusstseinszustandes.

Darauf ist an diesem in scharfer Genauigkeit gearbeiteten Abend überhaupt alles angelegt. Zunächst die Bühne von Justine Klimczyk, die in ihrer beeindruckenden Einfachheit vielfach verschiedene Räume zu definieren erlaubt: eine Drehscheibe, darauf drei Halbrunde, die so geschoben werden können, dass Gänge, Orte, Stimmungen abrupt wechseln und stets ein schneckenartiges Labyrinth suggerieren. Mal verdeckt es die Sprechenden, mal holt es diese rabiat ans Licht. Dazu eine Musik von Nik Bärtsch, die zwischen psychodelischem Sound mit eigener Dramaturgie und Inszenierungshilfe pendelt. Das Wiedersehen zwischen Amphitryon und Alkmene ist ein lustsprühender Hip−Hop−Dance, deutlich der MTV−Ästhetik entlehnt: als Amphitryon 1 und 2 aufeinandertreffen, lässt ein pfeifender Ton Darsteller wie Zuschauer körperlich leiden. Ein auf die Bühne projiziertes Video zeigt gleichzeitig die Figuren in einem verwaschenen Schwarzgrün wandeln. Ein schmerzendes Alptraumbild, der Abdruck einer existentiellen Angst vor völligem Selbstverlust. Dass zudem die Figuren vielsagende Kostüme tragen (die beiden Sosias´ mit Fliegermütze, die Damen in transparenten Kleidern, Amphitryon in Outdoor−Hosen) und die chorischen Partien mit dramaturgischer Klugheit gesetzt sind, macht aus diesem "Bewusstseinsexperiment" ein tiefenpsychologisch interessiertes Theater der Selbstentblößung. Konzeptionell und dramaturgisch auf höchstem Niveau, dem die Schauspieler leider nicht immer gewachsen sind.

Nur auf den medienkritischen Anfang hätte man gern verzichtet: Auf das äußere Halbrund werden Fernsehbilder geworfen (N24, MTV), eine Fläche zeigt ein graues Flimmerbild − bis die Videos uns Waschstraßenbürsten sehen lassen und die Darsteller durch das Bild verschwinden, verschluckt werden. Dass die Medien- und Gegenwartswelt selbst sich des Bewusstseinsflackerns ihrer Zuschauer bedient und diese befördert, das erzählen die folgenden zwei Stunden auf weitaus raffiniertere und souveränere Weise, als diese simplifizierenden Assoziationen vorgeben. Das Fehlen der Götter ist gerade kein Fernsehphänomen, sondern Folge einer uneinholbaren Selbstentfremdung. Darüber wird noch nachzudenken sein.

von Dirk Pilz

 

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Ene Mene Muh und wer bist du?

Campusradio, 17.03.06:
Premiere von Kleists "Amphitryon" am Theaterhaus Jena. Ambitionierte Regiearbeit von Nora Somaini.

Von Rico Valtin

Siegreich kehrt Amphitryon, König von Tirys, aus der Schlacht heim. Seine Frau Alkmene findet er abgekämpft, nach langer Liebesnacht, auf ihrem Lager vor. Sie ist überzeugt, diese göttliche Nacht mit Ihrem Gemahl geteilt zu haben. Doch Amphitryon verleugnet sie. Er wurde gehörnt und seine Frau wird von Zweifeln gequält. Schon kreisen alle Fragen um die eigene Identität und das Gefühl von Wahrheit.

Um diese Dilemma zu zeigen, stehen Amphitryon und sein Diener Sosias doppelt auf der Bühne. Sie bezweifeln das eigene Ich und verleugnen sich gegenseitig. Alkmene spaltet sich in die schizophrenen Persönlichkeiten "der Körperlichen" und "der Geistigen". Regisseurin Nora Somaini besetzt deshalb auch sie mit zwei Schauspielerinnen. "Alkmene bekommt nicht zusammen, dass ihr Mann, mit dem sie eine Liebesnacht verbringt, jemand komplett anderes war. Ich glaube das kann man gar nicht fassen".
Somaini behält die Sprache von Kleist bei. Sonst löst sie das Werk auf und setzt es sehr formal neu zusammen. Hier zeigt sich die Schwäche der Inszenierung. Ein Ganzes macht doch mehr aus, als die Summe seiner Einzelteile. Kleists radikale Frage nach der Identität geht in der Jenaer Formatierung leider etwas unter. Und den ganz eigenen Rhythmus des Stückes treffen die Schauspieler zur Premiere noch nicht ganz.

Trotzdem trägt Somainis Arbeit schauspielerische Früchte. Sie kitzelt das Potenzial aus Andrea Schmid heraus, welche als Alkmene aufgeht. Und auch Gunnar Titzmann kann sich als Amphitryon sehen lassen. Schafft er es doch, eine unschöne Angewohnheit aus vergangenen Inszenierungen hinter sich zu lassen und sich nicht nur selbst zu spielen. Bis in die letzte Reihe spürt man, dieses Stück ist anspruchsvoll und lässt die Schauspieler ackern.
In der aktuellen Feuilleton-Debatte um das Regietheater bleibt das Theaterhaus keuch. Die weiße Drehbühne wirkt schlicht und schafft passende Räume. Keine Spur von Eckelszenen, dafür herrscht eine MTV-Ästhetik vor, die Regisseurin Nora Somaini gut erklären kann. "Diese MTV-Ästhetik sieht man in allen Gemäldegalerien, fast wie bei den Rappertruppen, was ich teilweise hochnot peinlich finde. Doch ich komme darauf, weil Kleist vom Bildgedanken ausgeht und seine Sprache wie bei Gemälden funktioniert. Ich persönlich bin kein MTV-Fan, im Gegenteil!"

Ästhetik hin oder her. Das Theaterhaus zeigt, wie modern und aktuell Kleist noch immer ist. Die radikalen Fragen kann das ambitionierte Stück nicht beantworten. Das können nur die Zuschauer versuchen, jeder für sich.

 

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Ostthüringer Zeitung, 17.03.2006: Bin ich ich oder was?

 

Die Schweizer Regisseurin Nora Somaini inszeniert am Theaterhaus Jena Kleists "Amphitryon"

 
Die Identität eines Menschen wird unter anderem davon bestimmt, was er denkt, was die Anderen über ihn denken. Das Bild, von dem er glaubt, das es die Anderen über ihn haben, ist das Spieglein an der Wand, dem zum Beispiel die böse Königin im Märchen die Frage nach ihrer Identität stellt. Und die sich ja schon in ihrem Fall als trügerisch erweist. Aber auch wenn es nicht darum geht, die Schönste zu sein, geht es beim Blick in den Spiegel doch um das, was wahr am Selbstbild ist, was wahrhaftig und was Illusion.

Vor genau 200 Jahren spielt Heinrich von Kleist mit dieser Metaebene und geht in seiner raffinierten Komödie "Amphitryon" noch einen Schritt weiter. Göttervater Jupiter, stets auf der Suche nach dem erotischen Kick, wäre zu gern nicht nur der Gott, der er glaubt, dem Götterbild der Menschen folgend, sein zu müssen. So führt sein Abenteuer mit Alkmene, mit der er in Gestalt ihres Gatten Amphitryon eine göttliche Nacht verbringt, alle Betroffenen auf der Suche nach der brüchigen Identität in ein Labyrinth.

Mit der Drehbühne des Jenaer Theaterhauses hat Justina Klimczyk (Bühne und Kostüme) die Labyrinth-Metapher klar und schön umgesetzt. Die Bühne gibt der Inszenierung den Schwung und das Tempo, das Nora Somaini für ihre intelligente und aktuelle Interpretation des Kleistschen Klassikers braucht. Bin ich der, der ich glaube zu sein, ist die Frage, die die Figuren umtreibt, die sie in tiefe Krisen stürzt und ihr Weltbild gründlich ins Wanken bringt.

Die Schweizer Regisseurin, die Einar Schleef auf das chorische Inszenieren brachte, dem sie seither ihren eigenen Stempel aufdrückt, konzentriert in ihrer Jenaer Inszenierung das Stück auf vier Personen. Von denen gibt es zwei (Amphitryon und seinen Diener Sosias) jeweils als Doppelgänger (Gott: Mathis Julian Schulze/Mensch: Gunnar Titzmann). Eine Person (Alkmene) gibt es doppelt – Andrea Schmidt und Saskia Taeger spielen die sinnierende und die sinnliche Seite der Feldherrengattin. Und die handfeste Charis, Gattin des Sosias (Naemi Schmidt-Lauber) schließlich als Einzige ganz bodenständig nur einmal. Was Irrung und Verwirrung komplett machen könnte, erweist sich als klar durchdacht und strukturiert und lässt das Stück zur anspruchsvollen aber auch sinnreich-witzigen Denksportaufgabe werden. Die zwei Stunden, bis Alkmene in den Armen ihres Amphitryon „Ach“ seufzt, vergehen im Flug und das Premierenpublikum feiert am Donnerstag Inszenierungsteam und Schauspieler gleichermaßen.

Somaini lässt "Amphitryon" an antikem Schelmenstück über einen selbstverliebten Gott und seinen mutwilligen Götterboten, was nötig ist, um ein heilloses Durcheinander anzurichten. Sie führt aber auch eindringlich den Albtraum vor, in den göttlicher Identitätsklau alle Betroffenen, Götter inklusive, stürzt. Somaini verschiebt aber auch zu Beginn die Zeitachse in Richtung Gegenwart, indem an die Labyrinthwand auf der Bühne wie ein Vorhang der tägliche Irrgarten der Fernseh−"Information" zwischen Börsennotierungen, Shoppingangeboten und historischer Doku projiziert wird. Sie überträgt dem Schauspielensemble Teile der Figurenmonologe, wenn es als Chor knifflige Fragen zur Identität stellt und so stellvertretend fürs Publikum die Stimme ergreift.

Diese Inszenierung prägt ein böser, aber klärender Witz und die leichte, aber sichere Hand der Regisseurin fürs große Ganze und die Details. Wenn etwa Sosias-Gott dem echten Sosias klar macht, wer Sosias ist, bis der aufgibt, auf seinem Ich zu bestehen. Wenn die Alkmenen nach der Liebesnacht mit dem Gott vom echten Amphitryon brüskiert werden, der dem bereits genossenen gemeinsamen Glück noch entgegenfiebert. Oder wenn der echte Sosias wie ein Kleinkind Schutz auf dem Arm seines Feldherren sucht.


von Angelika Bohn
 

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Thüringer Allgemeine, 17.03.2006: Jena: Das Ego ist eine Drehscheibe

 

Mit einem vieldeutig hingeseufzten "Ach!" entlässt uns Kleist aus seinem "Amphitryon". In Jena ist das auch so. Sonst ist vieles anders.

Alkmenes leichtsinnig schwermütiges "Ach!" vertreibt den geilen Gott aus ihrem Kopf, derweil sie ihren guten Gatten wieder bei sich weiß. Aber der Gott sah wie der Gatte aus, weshalb man immer noch die Wahrheit scheinen lassen kann, die Frau habe doch nur Amphitryon vergöttert, als ihr Jupiter in den Schoß fiel. Aber längst war Götterdämmerung, und da bleibt nur die Verwirrung übrig. Und die Geilheit.

Und um beides scheint es sich am Theaterhaus Jena nun zu drehen, im "wahrsten" Sinne. Denn da ist eine Scheibe. Und darauf, so scheint´s, ein prismaförmiger Rundpavillon mit Aufbau (Bühne: Justina Klimczyk). Dann dreht sich´s ein bisschen und übrig bleibt die Hälfte nur, ein Querschnitt. Zuletzt ist auch das nur die halbe Wahrheit, denn da sind nur drei halb runde Wände, unterschiedlich in Höhe und Material. Und die lassen sich ineinander verdrehen wie die Identitäten der Menschen, die Regisseurin Nora Somaini dazwischen gestellt hat. Das mutet an wie eine Psychoscheibe mit drei Ebenen: Es, Ich, Über−Ich. (Es ist ja auch Freud-Jahr!) Und ums "vermaledeite Ich" dreht es sich nun mal, oder um das, was davon übrig blieb.

Jupiter und sein Bote Merkur kommen nur noch im Text vor, auf der Szene sind sie einfach der verdoppelte Amphitryon und der zweite Diener Sosias.

Alkmene haben sie gleich mit geklont, wodurch sie wie von selbst aus dem Zentrum rückt und Platz macht nicht für Amphitryon, die Figur, sondern für "Amphitryon", das Stück, in neuem Licht: Die Somaini ummantelt den Einzelnen mit dem Chor der Anderen, der ihn vervielfacht. Das Ego kriegt ein Echo – und platzt auf. Das Wer−bin−ich−Spiel bleibt ohne Sieger. Das ist keine schöne Botschaft für Selbstverwirklicher, aber schön erzählt. Mit Witz. Und mit Kraft.

Der einzelne Mensch bleibt trotzdem sichtbar: Gunnar Titzmanns Amphitryon verliert mit seinem Alleinstellungsmerkmal auch den Verstand, während sich jener von Mathis Julian Schulze an den Wahn verliert, er sei zwar nicht der Alleinige, aber der Bessere. Sven Tjaben, der erste Sosias, stiert großäugig und spricht kleinmütig, Tim Ehlert als der zweite blitzt schlitzäugig und grinst breitmäulig. Andrea Schmid, die als eine der Alkmenes fieberheiß träumend den Akt erlebt, den Saskia Taeger als die andere mit Amphitryon zwei zupackend vollzieht, ist eine kleine Löwin, die Taeger eine große Gazelle. Und Sosias´ Weib Charis (Naemi Schmidt-Lauber), als einzige unverdoppelt, trampelt verzückt als prima Ballerinchen.

Die Geilheit wird indes ein bisschen arg durchs Stück gehechelt, derweil der Sprachtrieb etwas stockt. Kleist bisweilen zugekleistert, mit Jargonquark und Verhaspelspänen. Ach, und das "Ach!" war schwach!

 

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Thüringische Landeszeitung, 17.03.2006: Verwirrte Sinne im Peep-Labyrinth

 
Jena. (tlz) Peppige Disco-Rhythmen, poppige Action: Um Alkmene flugs heimzusuchen und mit ihr das kopulationsgymnastische Repertoire durchzuturnen, hat der olympische Jupiter die Gestalt ihres Gemahls, des braven Amphitryon, angenommen. Indessen Alkmene, im Glauben, der Gatte selbst lege Hand an, sich des stimulierenden Götterfunkens sichtlich erfreut, reagiert der düpierte Gatte einigermaßen verwirrt, sogar verzweifelt, als der sexgierige Doppelgänger entlarvt wird. Des Kleistschen Lustspiels "Amphitryon", vor allem dessen erotischer Dimension, hat sich jetzt die junge Regisseurin Nora Somaini am Theaterhaus Jena anzunehmen versucht.

Als ein "Bewusstseinsexperiment" gibt sie die Inszenierung aus − und tatsächlich reiben die Zuschauer sich die Augen, weil alles, alle doppelt scheinen: nicht nur Amphitryon (Gunnar Titzmann, Mathis Julian Schulze), wie der zweifache Diener Sosias (Sven Tjaben, Tim Ehlert) in Martial-Arts-Kostüm gewandet, sondern ebenso das kesse Objekt der Begierde, Alkmene (Andrea Schmid, Saskia Taeger), die leicht geschürzt für jede Peepshow-Einlage gerne herhält, ja schwarz und weiß wie Ying und Yang verschleiert in autoerotischer Schizomanie sich selbstvergessen auch mal selbst liebkost.

Natürlich gehört sowas auf eine allen perspektivischen Wünschen offene Drehbühne, während drei mobile, halbrunde Wandschirme das von Kleist verlangte Labyrinth herstellen. (Ausstattung: Bettina Klimczyk). – Ein Schelm, wer Arges dabei denkt. Denn Somaini projiziert zu Anfang auf die Fassade dieses eigentlich thebanischen Ambientes vierfaches Bildschirm-Flimmern − "pay and see J−TV" − (Video: Till Caspar Juon), und mitten hinein in das Gewirr der elektronischen Kanäle saugt es die lebendigen Akteure.

Das erinnert etwa an den Plot des alten Jeff Bridges−Kinostreifens "Tron", in den als einem der ersten computergenerierte Sequenzen einmontiert waren. Die Theaterbühne verwandelt sich zur Projektion unserer Bewusstseinsströme; immer wenn auf dieser Spielebene rationale und irrationale Wirklichkeiten miteinander kollidieren, lässt Somainis Master Control die Akteure zu chorisch sprechenden Klonen mutieren, ergänzt sie gar um videotisch generierte Körperschatten.

Kleists Drama wird dadurch verheutigt, leider aber auch verflacht. Denn nicht nur das klassische Dilemma von Alkmenes Schuld und Unschuld geht im Rausch der − letztlich unmotiviert zugespitzten − Klonmotivik unter. Auch ist die Regisseurin derart mit der Rotation der Paravents beschäftigt, dass sie die Jenaer Mimen meist ziemlich hilflos, statisch auf der Bühne stehen lässt. Zumal Kleists gute, alte Versästhetik den reduzierten Sprechkünsten der Akteure bedauerlicherweise kaum gewachsen ist − oder umgekehrt. Damit versöhnt nicht mal, wie die vereinfachte Alkmene ihr finales "Ach" hinreichend vieldeutig − mehr mit einer Spur lüsternen Genießertums als wahren Bedauerns − verhaucht.

von Wolfgang Hirsch
 

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